Die gewaltfreie Kommunikation fußt auf der Grundhaltung, dass alle Menschen altruistisch veranlagt sind und dass hinter jeder ihrer Handlungen die Erfüllung von allen Menschen gemeinen Bedürfnissen liegt.
Wenn ich an die rücksichtslosen Diktatoren unserer Zeit und an die unvorstellbar brutalen Verbrechen von Terror-Organisationen denke, dann finde ich es schwer, an Altruismus und Bedürfniserfüllung zu glauben. Welche Bedürfnisse im Sinne der GfK liegen hinter dem brutalen Morden?
Hier lieferte mir die Kindheitsforscherin Alice Miller in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung “ Antworten. Wie die GfK vertritt sie die Haltungen, dass kein Mensch einem anderen Leid zufügen möchte, denn „jeder Mensch wird unschuldig geboren“. Oder umgekehrt: Kein Mensch kommt als Verbrecher auf die Welt.
Miller legt deutlich dar, dass in negativen Erfahrungen der ersten sechs Lebensjahren die Grundlage für spätere Verbrechen liegen. Auch wenn sich manche dagegen sträuben, die Verantwortung für Verbrechen allein deren Eltern und Erziehenden zuzuschreiben – Alice Miller hat in ihren jahrzehntelangen Forschungen genau das bestätigt bekommen: „Während wir in den Medien die Täter verurteilen übersehen wir den eigentlichen Mord, der an deren jungen Kinderseelen viele Jahre voraus verübt wurde“.
Kaum zu ertragen fand ich das Lesen der in ihrem Buch beschriebenen Misshandlungen und Qualen der Kinder, aus denen später der Diktator Adolf Hitler, die Drogenabhängige Christiane F. und der Kindermörder Jürgen Bartsch wurden. Alles Menschen, die ich früher in nicht besonders schmeichelhaften Schubladen gesteckt hätte. Mir fällt es mit Alice Miller’ Hilfe leichter, hinter dem Täter und seinen schrecklichen Taten den Menschen zu sehen, der nicht an sich böse ist. Statt dessen ist seine Tat ein tragischer Schrei um Hilfe und Erleichterung. Meistens gehen der Tat etliche andere, weniger zerstörerische Anzeichen voraus. Nur dass hier die Gesellschaft weg schaut.
Kinder sind in den ersten Lebensjahren absolut abhängig von den Eltern und anderen Bezugspersonen. Wenn sie von diesen geschlagen, gedemütigt, misshandelt, missachtet, verwahrlost, erniedrigt, gestraft, für nicht gut befunden werden und wenn dabei kein anderer Erwachsener korrigierend eingreift, dann verletzt das die Integrität des Kindes nachhaltig. Wenn es seinen Zorn unterdrücken muss und niemand hat, der es tröstet, dann schützt es sich, indem es seine Gefühle wegdrückt, die Erinnerung an diese Erlebnisse verdrängt und den Täter idealisiert. So entstehen verklärte Bilder wie die vom „harten, aber gerechten Vater“.
Tief im Unterbewusstsein jedoch brodeln die unterdrückten Gefühle weiter, abgespalten von dem damaligen Ereignis. Der Deckel auf diesen Gefühlen ist allerdings nicht versiegelt. Immer wieder schlüpfen sie unkontrolliert heraus, um im Wiederholungszwang ausgelebt zu werden. Entweder richten sie sich nach Außen, gegen andere Menschen. Diese sollen dann erleiden müssen, was dem misshandelten Kind angetan wurde. Oder sie richten sich selbstzerstörerisch nach Innen: „Wer als Kind geschlagen wurde, schlägt als Erwachsener andere – oder möchte selbst geschlagen werden“. Das erklärt für mich die Geschichten von Frauen, die immer wieder aggressiven und brutalen Männern verfallen.
Die Wiederholung ist eine (unbewusste?) Strategie, welche nie zum Ziel führt. Denn um wirkliche Erleichterung für Kindheitstraumata zu erlangen, muss laut Alice Miller der damalige unterdrückte Zorn und Schmerz bewusst erlebt werden, damit die abgespaltenen Gefühle sich wieder mit den Erinnerungen verbinden und auflösen können. Das geht weit über die „normale“ GfK hinaus – hier ist eine Therapie angesagt.
“Psychotherapists unfuck people, who were fucked up by society.”
(Psychotherapeuten reparieren Menschen, die von der Gesellschaft Die ruiniert wurden) (Marshall Rosenberg)
Es müssen auch nicht gleich „Verbrecher“ aus den Kindern werden. Sondern es werden Erwachsene mit einer ganzen Reihe von Symptomen: Depression, Borderline, Suchterkrankungen, Essstörungen, Selbstmordgefährdet, Persönlichkeitsstörungen. Kindheitstraumata sind durchaus keine Seltenheit, auch in unserer heutigen Zeit nicht, selbst in Deutschland (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Kindheitstrauma).
Und was „bringt“ mir das für die Gewaltfreie Kommunikation? Es hilft mit für meine eigene Menschlichkeit und (Be-)Wertung von Verbrechern. Ich sehe auf der einen Seite im Täter den Menschen und kann Mitgefühl für das verletzte Kind haben, welches er einmal war. Und ich sehe seine Taten, die ich nicht tolerieren kann und für welche die Gesellschaft die „schützende Anwendung von Gewalt“ – im Gegensatz zur Bestrafung – anwenden muss, um Schaden abzuwenden.
Weiter lesen:
- Das verletzte Kind Erdoğan:
„Erdoğans Erziehung war streng. Vor einigen Jahren berichtete er, wie er einmal von einer Nachbarin den Hintern versohlt bekam und darauf ein paar Flüche ausstieß – mit der Folge, dass er von seinem Vater zur Bestrafung an den Füßen mit dem Kopf nach unten aufgehängt wurde. Ein Onkel habe sich schließlich seiner erbarmt und ihn aus der misslichen Lage gerettet.“
Quelle: diepresse.com - Das verletzte Kind Donald Trump:
Er sei deshalb so verkorkst, bekannte Donald J. Trump in seinem Buch „Think Big“, weil sein Vater ziemlich viel von ihm verlangt habe. Der Vater des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Fred C. Trump, soll demnach eisern und extrem kritisch gewesen sein und mit Lob gegeizt haben. [..] Als Trump 13 Jahre alt war, verbannte ihn sein Vater auf die Militärschule. Einer der Erzieher der strengen Kadettenanstalt erzählte kurz vor seinem Tod Reportern, dass Trump immer die Nummer eins sein wollte. Er habe sich stets nach Anerkennung gesehnt. Wenn Druck auf Kinder zu groß wird, zerbrechen sie entweder oder gehen den entgegengesetzten Weg. Nicht selten driften sie in eine Welt der Unterhaltung und des Spaßes ab. Wenn sie eh nicht geliebt werden und nie gut genug sein können, dann können sie zumindest auf den Putz hauen. Bei manchen Heranwachsenden wird der Spaß zur Sucht und sie gehen unter.
Quelle: www.cicero.de
Ein Gedanke zu „Verbrechen und GfK“